Psychoanalyse und Queer Theory. Ein Versuch der Annäherung.

Esther Hutfless

Theoretisch sind sich Psychoanalyse und Queer Theory (1) vielleicht gar nicht so fern. Beide erforschen Fragen der Identifizierung, der Subjektwerdung, der Annahme eines Geschlechts, der Vielgestaltigkeit von Sexualität und Begehren. „Whereas queer theory approaches these ideas via sustained intellectual, political and practical engagement and psychoanalysis privileges the transferential relation between patient and analyst, the goal of delimiting a heterogenous horizon that queers subjectivity, social relations, power and knowledge in order to challenge normative knowledges, practices, beliefs, identities and the production of new social links is shared.“ (2)
Zudem waren und sind viele Strömungen der Queer Theory, der Geschlechterforschung und der feministischen Theorie von der Affirmation wie auch von der kritischen Reflexion von psychoanalytischen Ansätzen wesentlich geprägt.
Wie Eve Watson betont, teilen Psychoanalyse und Queer Theory auch einen gemeinsamen theoretischen Ausgangspunkt: die Auseinandersetzung mit der Frage der Homosexualität. Freud war demnach der Erste, der „normal“ unter Anführungszeichen gesetzt und Homosexualität als einen immanenten Aspekt von Sexualität überhaupt begriffen hat. (3) Das Verständnis der Psychoanalyse von Sexualität im weitesten Sinne unter Einbezug von Begehren, Trieb, Wünschen und Phantasien, von bewussten und unbewussten Anteilen stellt die Grenze von normal und pathologisch radikal in Frage. So ist es nicht verwunderlich, dass Diego Costa die Psychoanalyse per se als queer versteht: „Its queerness is already there, in its mechanism, its goals, its principles, its language, its flexibility, its history, its ruptures, its multi-valence, and mostly, for its relationship between theory and practice – from the beginning.“ (4)
Warum erscheint es uns aber aus heutiger Perspektive wieder notwendig auf diese Queerness und Offenheit der Psychoanalyse hinzuweisen und diese einzufordern?
Wie Robert Friedman zeigt, kam es insbesondere in den 50er Jahren ausgehend von US-amerikanischen Ansätzen zu einer einflussreichen die Homosexualität pathologisierenden Theoriebildung. (5) Freuds Konzept der psychischen Bisexualität wurde ausgehöhlt, Heterosexualität als Norm gesetzt und Homosexualität als nicht gleichwertiger Ersatz für eine aus Angst abgewehrte Heterosexualität begriffen. Ausgehend davon haben sich Stereotypien über ödipale Konstellationen, die vermeintlich zu Homosexualität bzw. zur „Abwehr“ von Heterosexualität führen, verfestigt und damit auch bestimmte stereotype Merkmale, mit denen Menschen mit alternativer sexueller Orientierung bzw. Identität versehen werden.
Sicher gab es zu jener Zeit auch andere einflussreiche Theorien, Friedman nennt etwa den Kinsey-Report, bei dem eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Proband_innen angab über wiederholte homosexuelle Erfahrungen zu verfügen; weiters verweist er auf die zu Beginn der 70er Jahre von Marcel Saghir und Eli Robins durchgeführte Studie, bei der zwischen homosexuellen und heterosexuellen Personen beiderlei Geschlechts keinerlei signifikante Unterschiede in der von der Psychoanalyse als ausschlaggebend für die sexuelle Orientierung angenommenen Beziehung zum Vater festgestellt werden konnten. (6) Dennoch scheinen sich konservative Ansätze eher verbreitet und die weitere Theoriebildung und Praxis beeinflusst zu haben.
Die Psychoanalyse war immer eine Theorie und Praxis, die nicht nur das Heilen sondern auch das beständige Forschen in den Vordergrund gestellt und beide Aspekte in produktiver Weise miteinander verbunden hat. Sigmund Freud hat sowohl seine theoretischen Konzepte, als auch seine klinische Praxis immer wieder kritischen Revisionen unterzogen und seine Theorien verändert, umgeworfen und ergänzt. In diesem Sinne möchte ich mich für eine Rückbesinnung auf die Radikalität des offenen und unvoreingenommenen Forschens in den Anfängen der Psychoanalyse aussprechen und für einen produktiven Dialog zwischen Psychoanalyse und Queer Theory. Beide Ansätze können voneinander profitieren. Die Psychoanalyse kann von der Art und Weise profitieren, in der Queer-Theorien die Komplexität, Breite und Offenheit von Geschlecht, sexueller Identität und Orientierung denken, wobei gesellschaftliche Diskurse, die einige Subjekte als normal und andere als pathologisch markieren, mitberücksichtigt werden; umgekehrt wäre es für queer-theoretische Ansätze fruchtbar sich mit der komplexen Art und Weise zu befassen, in der die Psychoanalyse Subjektwerdung als Phänomen denkt, das über Identität und Identifizierung hinausgeht, in dem unbewusste Prozesse eine Rolle spielen und Verwerfungen und Ausschlüsse nicht nur gesellschaftlich, sondern auch intrapsychisch eine Rolle spielen. Queering Psychoanalysis will in diesem Sinne die Psychoanalyse nicht umschreiben sondern das, was in ihr immer schon immanent queer und widerständig ist, produktiv machen.

Anmerkungen:
(1) Unter Queer Theory verstehe ich einen nicht abgrenzbaren, nicht universalisierbaren oder methodisch determinierten wissenschaftlichen Diskurs, sondern eine Vielzahl an – vor allem inter- und transdisziplinären – Ansätzen, denen gemein ist, dass sie Identität und Identitätspolitiken in Zusammenhang mit Sexualität und Geschlecht radikal in Frage stellen. Neben der kritischen Infragestellung der herrschenden Geschlechterordnung werden in queer-theoretischen Ansätzen aber auch u. a. kapitalismuskritische, feministische, post-koloniale, ethische und Ansätze aus den Disability-Studies aufgegriffen.
(2) Watson, Eve: Queering Psychoanalysis/Psychoanalysing Queer. In: Annual Review of Critical Psychology, 7, 2009, S. 118.
(3) Vgl. ebd. S. 126. Siehe dazu auch: Theresa de Lauretis: The Practice of Love: Lesbian Sexuality and Perverse Desire. Indiana University Press, Bloomingdale 1994, S. 8.
(4) Diego Costa: Forget Theory. Praise of Psychoanalysis’s Queerness. In: Trans-cripts 2, 2012, S. 223.
(5) Vgl. Robert Friedman: The Psychoanalytic Model of Male Homosexuality: A Historical and Theoretical Critique. In: The Psychoanalytic Review, 73D, 1986, S. 86f.
(6) Vgl. ebd. S. 94 f.