Michael M. Kurzmann
Tomboy (2011) ist der zweite Spielfilm der französischen Drehbuchautorin und Filmregisseurin Céline Sciamma. Der Film schildert die Geschichte der zehnjährigen Laure, die den erneuten Umzug ihrer Familie nutzt, um sich in der neuen Umgebung als Junge namens Mikaël auszugeben – zunächst ohne das Wissen der Eltern und der jüngeren Schwester Jeanne.
In einem ruhigen, unaufgeregten, fast leichtfüßigen Stil erzählt der Film die Geschichte eines Sommers und der gleichzeitig existenziellen Thematik der Geschlechtsidentität(en).
Eine Thematik, die von Betroffenen mit transsexuellem Wunsch häufig als äußerst drängend erlebt wird und großen Leidensdruck erzeugt (u. a. durch Diskriminierung und Negation). Der forcierte Wunsch nach Veränderung bzw. einem erfolgreichen Passing stellt nicht zuletzt Berater_innen und Psychotherapeut_innen vor große Herausforderungen (1).
Tomboy wurde in diversen Feuilletons durchwegs positiv rezipiert, stieß aber in TransGender-Communities auf Ablehnung bzw. Kritik – siehe beispielsweise: http://trans.blogsport.de/2012/05/11/kritik-zum-film-tomboy/
Den größten Nachhall erzeugte bei mir die Beobachtung, dass der Vater sein Kind im gesamten Film kein einziges mal mit dem weiblichen Namen Laure anspricht, während dies die Mutter wie selbstverständlich tut. Vor allem zwei Szenen der Vater-Tochter_-Interaktion weckten mein Interesse: In der ersten Szene lässt der Vater Laure/Mikaël auf seinem Schoß sitzend das Auto lenken. Er zeigt in meiner Wahrnehmung als Vater eine liebevolle, fürsorgliche Präsenz.
In der zweiten Szene spielt er mit Laure/Mikaël ein Quartett-Kartenspiel. Der Vater fragt das Kind nach einer Karte: „Von der Camping-Familie bekäme ich gerne den Sohn“ (Anmerkung: Die Familie ist selbst mehrmals umgezogen). Er bietet seinem Kind einen Schluck aus der Bierflasche an. Daraufhin Laure/Mikaël: „Ich darf ja nicht!“ Vater: „Ein Schluck wird schon nichts machen!“
Ich sehe als Geteiltes, als gemeinsames Drittes zwischen Vater und Kind den transsexuellen Wunsch von Laure (und des Vaters?). Der Vater eröffnet – in meiner Lesart – seiner Tochter einen Möglichkeitsraum, der weitgehend der Sprache entzogen ist.
Diese Lesart basiert auf jüngeren Überlegungen von Judith Butler zur postödipalen Triangulierung, die sie im Anschluss an Jessica Benjamin entwickelt: Was ist das dritte Moment das gemeinsam mit der Dyade konstituiert wird?
„Die Dyade wird nicht einfach stillschweigend und endgültig durch den Bezug auf ein Drittes strukturiert sein: das tabuisierte elterliche Objekt der Liebe. Laut Benjamin entsteht das Dritte tatsächlich anders, auf eine Art und Weise, die den Akzent nicht auf das Verbot und seine Folgen setzt, sondern auf ‚beide Partner in einem Erregungsmuster‘. Dieses Muster ist das Dritte, und es ist ‚mitgeschaffen‘: ‚außerhalb der mentalen Kontrolle beider Partner finden wir einen Ort der Vermittlung, die Musik des Dritten, auf die sich beide einstimmen‘. Tatsächlich bildet das Dritte für Benjamin ein Transzendenzideal, einen Bezugspunkt für gegenseitiges Begehren, das sich der Repräsentation entzieht. Das Dritte, das ist nicht der konkrete Andere, der um das Begehren wirbt, sondern der oder das Andere des Anderen, der oder das ein Verhältnis des Begehrens in Anspruch nimmt, motiviert und überschreitet und es gleichzeitig grundlegend konstituiert.“
(Butler 2009: 220f)
Laure/Mikaël geht mit Freundin Lisa, die erste Person vor der er sich als Mikaël ausgibt, und den anderen Burschen der Nachbarschaft zum Schwimmen an den See. Dazu schneidert sie_er sich aus einem alten Badeanzug eine Badehose und formt aus Plastilin einen Penis, den sie_er während des Schwimmens in die Badehose steckt. Zurück vom Schwimmen verwahrt Laure/Mikaël den Plastilin-Penis in einer kleinen Schmuckdose, in der auch ihre_seine Milchzähne aufbewahrt werden.
Nach einer Prügelei mit einem Nachbarjungen erfährt Laures/Mikaëls (schwangere) Mutter, dass sich Laure als Junge ausgibt, weil sich die Mutter des geschlagenen Nachbarjungen an sie wendet und von einem Mikaël spricht. Am nächsten Tag fordert Laures/Mikaëls Mutter ihr Kind auf, ein blaues (!) Kleid anzuziehen und mit ihr mitzugehen. Trotz heftigen Widerstands von Laure/Mikaël gehen die beiden (Mutter und Kind) zunächst zur Familie des Jungen, den Laure/Mikaël verprügelt hat, dann zu Laures/Mikaëls Freundin Lisa. Alle sollen sehen: Laure ist ein Mädchen!
Ohne den Fortgang der Filmgeschichte zu kennen, lese ich hieraus – Benjamin (2002) folgend – die Möglichkeit eines Oszillierens zwischen dem dominanten ödipalen und dem überdauernden allumfassenden (overinclusive) präödipalen Prinzip (Fast 1984 zit. n. Benjamin 2002): Während Laure/Mikaël den Plastilin-Penis in der Schmuckdose mit den Milchzähnen gut aufbewahrt und nicht weg-/ver-wirft (allumfassende Position), führt die Mutter kurz vor Schulbeginn die „Realität“ ein, indem sie darauf hinweist, dass Laure in der Schule als Mädchen eingeschrieben ist. Spricht hier die Mutter – in einer strukturalen Lesart – im Namen des väterlichen Gesetzes (ödipale Position)?
Im Hinblick auf ein gemeinsames, geteiltes Drittes zwischen der schwangeren Mutter (sie ist schwanger mit einem Jungen) und Laure/Mikaël ist ein möglicher unbewusster Wunsch nach Männlichkeit bzw. einem männlichen Kind denkbar, sodass die Mutter die Bedürfnisse von Laure/Mikaël (zunächst) nicht sehen konnte/kann. Es geht möglicherweise um Beschämung und Schuld, wobei die Schuld Laure/Mikaël zugewiesen wird.
Zu erwähnen ist noch eine Szene am Ende des Films, die eine gewisse Anlehnung an Boy’s don’t cry bietet, in der Laure/Mikaël zunächst flüchtet, dann aber von den Jungen der Nachbarschaft an den Pranger (Baum) gestellt wird: „Es heißt, du bist ein Mädchen. Wir werden das überprüfen!“
Re/Produziert der Film hier den voyeuristischen, skopophilischen (männlichen) Blick bzw. die Frau als Bild (Mulvey 1980)?
Meiner Wahrnehmung nach wird der männliche Blick in gewisser Weise dadurch gebrochen, dass letztlich die Protagonistin Lisa diese Überprüfung durchführt, die mit Laure/Mikaël durch eine zärtliche Freundschaft/Liebschaft (es gibt eine Kussszene zwischen den beiden im Film) verbunden ist.
Die beteiligten Nachbarjungen suchen in der Überprüfung offenbar eine Möglichkeit, der eigenen Kastrationsangst zu entkommen: Wird auch ihnen – wie Mikaël – der Penis genommen? Laure ist das schuldige Objekt, das untersucht und der Kontrolle unterworfen werden soll, um die eigenen Kastrationsängste zu bannen. Aber die Burschen haben offensichtlich nicht den Mut, genau hinzusehen, „das Trauma erneut [zu] durchleben“ (Mulvey 1980: 40).
Lisa hingegen scheint sich in der Betrachtung von Laure/Mikaël zu spiegeln bzw. wiederzuerkennen: in ihrer Gleichheit/Andersartigkeit, so sagt Lisa am Anfang des Films zu Laure/Mikaël: „Du bist nicht wie die anderen“. Und: Letztlich wird dieses Prüfen im Film angedeutet, aber an dieser Stelle nicht konkret verbildlicht. Ein objektivierender, klärender Blick der Kamera auf Laures weibliches Genitale erfolgt jedoch bereits zu Beginn des Films – in einer gemeinsamen Badewannen-Szene mit Schwester Jeanne. Jeannes Genitale, das eines vermeintlich eindeutigen cis-Mädchens, bleibt in dieser Szene unüberprüft. Aber auch hier könnte der filmische Blick theoretisch auf eine andere Weise verstanden werden: Hat Jeanne vielleicht einen Penis? Es bleibt offen.
Am Ende des Films steht die Geburt eines männlichen Kindes/Sohnes, des kleinen Bruders von Laure/Mikaël.
In der letzten Szene fordert Freundin Lisa Laure/Mikaël auf: „Sag mir deinen Namen!“
„Ich heiße Laure“, sagt diese.
Nach längerem Schweigen und einem Moment der Stille lächelt Laure.
Anmerkungen:
(1) Zur Versämtlichung und Pathologisierung des Transsexuellen durch die Psychoanalyse siehe beispielsweise eine kritische Bestandsaufnahme von Friedemann Pfäfflin (2008), „Transsexuelles Begehren“.
Literatur:
BENJAMIN, Jessica (2002). Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität – Gender – Psychoanalyse. Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld / Nexus
BUTLER, Judith (2009). Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
MULVEY, Laura (1980). Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski, Gislind/Sander, Helke/Gorsen, Peter (Hg.). Frauen in der Kunst. I. Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 30-46
PFÄFFLIN, Friedemann (2008). Transsexuelles Begehren. In: Springer, Anne/Münch, Karsten/Munz, Dietrich (Hg.). Sexualitäten. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 311-330