Esther Hutfless
Der Besuch eines psychoanalytischen Vortrages zu Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen und die dort geführten Diskussionen zum Begriff queer und zu Fragen von Geschlecht und Gender bewegen mich dazu auf jene Vorurteile näher einzugehen, die offenbar innerhalb der Psychoanalyse sowohl gegenüber queeren Theorien als auch gegenüber der Geschlechterforschung kursieren, die zu einem falschen und verkürzten Verständnis dieser Ansätze führen und dadurch Gefahr laufen, Vorurteile gegenüber jenen Menschen fortschreiben, die sich auf vielfältige Weise nicht der Geschlechterdichotomie konform identifizieren.
Vorurteil Nr. 1:
Queer Theory stelle eine Ideologie dar, die behaupte, dass jede_r ganz frei und beliebig sein_ihr Geschlecht wählen und sich im schlimmsten Fall täglich anders identifizieren könne. Verwiesen wurde auf die im deutschen Facebook möglichen 60 Varianten sich geschlechtlich zu identifizieren und die „konfusen“ Identifizierungs- und Begehrenskonstellationen bei Trans-Personen.
Vorurteil Nr. 2:
Queer Theory und der Begriff queer stünden im Dienste des neoliberalen Kapitalismus. Durch die massive Individualisierung und Differenzierung würden stetig neue Konsument_innengruppen produziert. Queer sei damit neoliberaler Lifestyle.
Vorurteil Nr. 3:
Queer stelle – ähnlich wie Foucault dies für die Sexuelle Revolution konstatierte – nicht einen progressiven und subversiven Diskurs dar, sondern stehe im Dienst einer konservativen Bewegung.
Vorurteil Nr. 4:
Queer und der damit verbundene Wunsch die Mann/Frau Dichotomie aufzulösen, habe mit einem narzisstischen Allmachtsgefühl zu tun.
Vorurteil Nr. 5:
Gender Studies und Queer Theory hätten zu einer Verdrängung des Diskurses über Sexualität geführt, es ginge jetzt nur mehr um Identifizierungen und Geschlechtsidentität.
Ich möchte diesen Vorurteilen meine Lesart von queer entgegenstellen, wobei ich darauf hinweisen möchte, dass es nicht eine Queer Theory gibt sondern eine Pluralität an queeren Theorieansätzen, die sehr divers und vielfältig sind. Den Vorwurf Queer Theory hätte den Diskurs über Sexualität ausgeschlossen, kann ich nicht nachvollziehen. Im Gegenteil, ich gewinne den Eindruck, dass über Queer Theorien Sexualität sehr stark in den Geschlechterdiskurs reintegriert wurde und dass Geschlechtsidentität und gelebte Sexualität zusammen gedacht werden.[1]
Queer Theory als einen einzigen undifferenzierten Diskurs zu behandeln und als beliebig und oberflächlich zu verwerfen, halte ich daher für eine Missachtung eines weiten Forschungsfeldes. In einem Artikel der gemeinsam mit Elisabeth Schäfer entstanden ist, wird queer wie folgt beschrieben:
„Queer beschreibt zunächst eine Orientierung, die nicht der Norm entspricht, die klassische Repräsentationen suspendiert ohne neue zu stiften. Als Attribut geschlechtlicher Ausdrucksformen und sexueller Orientierungen signifiziert es nichts eindeutig; es hält sich selbst offen, fließend und dynamisch. Darin liegt seine Stärke aber auch die Gefahr der Vereinnahmung durch den monologischen und heteronormativen Mainstream. Daher bestehen wir darauf, dass queer nicht beliebig ist.“[2]
Allein die Tatsache, dass der Begriff queer sich offen hält, bedeutet noch nicht, dass er beliebig anwendbar und einsetzbar wäre.
Die Tatsache, dass queer verschiedene, differente Subjekte zu signifizieren vermag, bzw. queer von verschiedenen Subjekten angeeignet werden kann, bedeutet nicht, dass es diesen Subjekten an Identität und Kohärenz fehlen würde, wie es ihnen oftmals von psychoanalytischer Seite unterstellt wird. Zugleich ist natürlich auch klinisch immer wieder eine problematische Aneignung oder vielmehr ein Gebrauch oder Missbrauch von queer zur Stabilisierung der eigenen Subjektposition zu beobachten, der selbstverständlich im psychoanalytischen Setting kritisch zu hinterfragen ist. Vielleicht wird man in der Analyse auch auf Allmachtsgefühle stoßen – wie bei allen anderen auch; diese jedoch für alle „Queers“ zu behaupten, geht mit einer Pathologisierung einher, die in der Psychoanalyse immer wieder fortgeschrieben wurde (etwa männliche Homosexualität habe mit Narzissmus zu tun).
Dennoch halte ich es für wichtig den Begriff queer in seiner Multiplizität zu bewahren und wandern und wuchern zu lassen und ihn nicht monolitisch zu verfestigen oder gar einzufrieren. Dies ermöglicht es, den Begriff politisch jenseits eines Identitätsdiskurses zu verorten.
Wenn wir die psychische Genese von Subjekten denken, ist es auch notwendig Identifizierung zu denken. Zugleich gibt es in der Psychoanalyse aber auch kritische Betrachtungen der Identifizierung, etwa wenn wir an die Massenpsychologie denken. In Bezug auf queer sind meiner Ansicht nach noch weitere Forschungen und Untersuchungen notwendig, um zu klären auf welche Weise ein Verständnis von queer durchaus in psychodynamische Entwicklungstheorien und psychoanalytische Subjektkonzeptionen integriert werden kann, ohne queer von vornherein als pathologisch zu verwerfen.
Ich halte es daher theoretisch für bedeutsam die Differenz zwischen dem Begriff queer und einem Subjekt, das sich als queer signifiziert, nicht aus den Augen zu verlieren. Zugleich sind Sprache und Subjekte natürlich auch verwoben; Subjekte werden durch Sprache, Diskurse, Signifizierungen jeweils anders hervorgebracht, darin liegt auch die Kraft von queer, was die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse anbelangt. Gegen den Beliebigkeitsvorwurf kann zudem noch eingebracht werden, dass queer sehr wohl aus einem bestimmten, nämlich abwertenden, verwerflichmachenden Bedeutungskontext kommt und als Begriff von der Community angeeignet wurde. Insofern schreibt sich in queer eine Geschichte fort und um; es geht darum Andersheit und Differenz nicht bloß von negativen und abwertenden Fremdzuschreibungen zu inkorporieren, sondern vom eigenen Begehren, den eigenen Wünschen aus zu entfalten.
Natürlich läuft die „Offenheit“ des Begriffs queer immer Gefahr durch identitäre Diskurse vereinnahmt zu werden, was erneut Ausschlüsse, Einschlüsse und Verwerfungen produziert. Dies jedoch wird von queeren Theoretiker_innen stets auf schärfste kritisiert. Rechte Diskurse etwa versuchen LGBTIQs im Namen der Freiheit einer Kultur zu vereinnahmen, ein Unterfangen das absurderweise mitunter auch gelingt. Minderheiten lassen sich oft leicht gegen andere in Stellung bringen und politisch instrumentalisieren. Aber das hat meiner Ansicht nach weniger mit einer Schwäche des Begriffs queer zu tun, vielmehr im Gegenteil mit der Schwäche eines Subjekts, das sich identifizieren möchte und in diesem Prozess über Leichen geht, wie uns die Geschichte immer wieder lehrt.
Was den Vorwurf betrifft, queer sei neoliberaler Lifestyle bzw. werde vom Kapitalismus vereinnahmt: Auch hier vertrete ich die Ansicht, dass dies nicht der Konzeption queer zum Vorwurf gemacht werden kann. Die Problematik, die hinter diesem Vorwurf steckt, haben viele – unter anderem auch Alain Badiou – problematisiert. Der Kapitalismus verlangt nach Zählbarkeit und Verfügbarkeit, all das, was nicht zählbar und verfügbar ist, lässt sich auch nicht im Sinne der kapitalistischen Logik verwerten. Der Kapitalismus hat zudem die Macht Zählbarkeit und Verfügbarkeit herzustellen, indem er u. a. immer mehr und neue Identitäten/Minoritäten produziert, die jedoch feststellbar sein und erstarren müssen, damit sie ihm zur Verfügung stehen. Er transformiert gewissermaßen Minoritäten/Individualitäten in Identitäten. Der Kapitalismus deterritorialisiert jedoch stets allein, um immer neue territoriale Identitäten zu schaffen.[3] Genau das ist es jedoch wogegen sich queer radikal wendet und damit auch problematische Identitätsdiskurse der Schwulen- und Lesbenbewegung kritisiert.
Queer beinhaltet meiner Meinung nach Deterritorialisierung ohne Reterritorialisierung, es stellt eine radikale Unverfügbarkeit dar. Queer ist eine Bewegung des Entzugs.[4]
Es sei zudem angemerkt, dass alternative Selbstdefinitionen jenseits der Mann/Frau-Dualität nicht bloß ein Produkt neoliberaler Diskurse darstellen, sondern in queeren Subkulturen immer schon zirkuliert sind, sich aber auch beständig verändert haben. In diesem Zusammenhang kann etwa auf Butch oder KV verwiesen werden, die nicht nur auf eine sexuelle Orientierung sondern auch auf eine Geschlechtsidentität jenseits von Frau oder Mann verweisen. Jack Halberstam hat sich in der kulturtheoretischen Studie „Female Masculinity“ mit alternativen subkulturellen Praxen und Identifizierungen beschäftigt. Alternative Identitäten stellen also nicht bloß ein neues und auch nicht ein rein kapitalistisches Phänomen dar.
Ob und inwiefern wir queer in der Zukunft als problematisches Dispositiv im Sinne Foucaults betrachten müssen, muss aus heutiger Perspektive meiner Ansicht noch offen bleiben. Es wird zu fragen sein, inwiefern das Anliegen von queer, Identitäten immer kritisch zu hinterfragen, zu dekonstruieren, offen und fluide zu halten, gelingen mag.
Anmerkungen:
[1] Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Geschlechtsidentität von Sedgwick hinweisen, das ich in folgendem Text behandle: https://queeringpsychoanalysis.wordpress.com/2014/11/02/uberlegungen-zur-frage-der-geschlechtsidentitat-gender-identity-in-der-psychoanalytischen-theorie/#more-224 Bei Sedgwick ist die Geschlechtsidentität in ihrer Komplexität immer schon an die sexuelle Praxis gebunden.
[2] Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer: Die Transience des Lebendigen denken / eine queere Philosophie versprechen. In: Sublin/mes. philosophieren von unten. A queer reviewed Journal. Heft #1, Wien 2012, S 16. Online unter: https://sublinesblog.files.wordpress.com/2012/11/sublinmes-1-webdownlaod.pdf
[3] Vgl. Alain Badiou: Saint Paul – The Foundation of Universalism. Stanford University Press, Stanford 2003, S. 10.
[4] In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf folgenden Text verweisen: Gemeinsam mit Elisabeth Schäfer: Do not put up a brave front! Fragmente Queerer Anarchien am Rand, an der Grenze, im Zwischen. In: Sublin/mes. philosophieren von unten. A queer reviewed Journal. Heft #2, Wien 2013. Online unter: https://sublinesblog.files.wordpress.com/2013/03/sublinmes-2-webdownload.pdf