Esther Hutfless
Die Psychoanalyse entstand Ende des 19. Jahrhunderts in einem Klima geprägt von zahlreichen psychiatrischen Diskursen, die „Geisteskrankheiten“ und „sexuelle Abweichungen“ systematisiert, beschrieben, ebenso wie pathologisiert und sie den „sittlichen Subjekten“ gegenübergestellt haben. Sigmund Freud hat sich in vielen Fragen von diesen Pathologisierungen distanziert, indem er etwa in den Drei Abhandlungen, die Verwendung des Begriffs der „Degeneration“[1] zurückweist und die „Perversion“[2] als Teil jeder Sexualität versteht.
Dennoch übernimmt Freud den Begriff der Perversion, der seine pathologisierende Bedeutung innerhalb psychoanalytischer Theorien nie ganz verlieren wird, trotz der Beteuerungen, dass damit keine Abwertung verbunden sei, dass die Perversion eine Persönlichkeitsstruktur wie alle anderen darstelle oder als „Plombe“ verstanden ein Symptom beschreibe, das der Stabilisierung des Subjekts diene, oder – struktural verstanden – ein bestimmtes nicht wertendes Verhältnis zur „Väterlichen Funktion“ beschreibe.
In diesem Beitrag möchte ich mich dezidiert nicht mit den Perversionstheorien beschäftigen, sondern mit der „Perversion“ auf der Seite der Analytiker*innen. Aus einer entpathologisierenden queerenden Perspektive möchte ich danach fragen, warum die psychoanalytische Theorie und Praxis an solcherart pathologisierenden Begriffen festhält? Ich möchte kritisch hinterfragen, ob durch Diagnosen und Zuschreibungen solcherart etwas für die psychoanalytische Praxis gewonnen werden kann. Ich bezweifle, dass in dieser Weise identifizierende und fixierende Termini wie „Perversion“ uns helfen, die Problematiken unserer Analysand*innen zu verstehen, denn es handelt sich schlichtweg um einen Überbegriff, der uns nichts weiter über die individuellen Konflikte, Ängste und Abwehrstrukturen verrät, denn Perversionstheorien sind zugleich so vielfältig und divers, dass ohne den weiterführenden Hinweis auf welche Theorie man nun referiert, das Feld vollkommen offen bleibt.
Ich möchte meine weitere Argumentation mit einer kurzen Fallvignette illustrieren, so wie dies Psychoanalytiker*innen gerne zu tun pflegen. Ich werde jedoch nicht auf eine meiner Analysand*innen verweisen, sondern den Spieß umdrehen und mich selbst zum Fall erklären. Denn mir geht es hier um die Seite der Analytiker*innen, also um die Problematik der Gegenübertragung. Ich arbeitete mit einer Analysandin eineinhalb Jahre, wir beschäftigten uns intensiv mit ihrer sehr schwierigen Kindheit, ihren konflikthaften oft auch idealisierenden Beziehungen zum missbrauchenden Elternhaus, ihren Ängsten und der Art und Weise wie diese existentiellen Ängste immer wieder am Körper ausagiert werden, ihren gelingenden und nicht gelingenden Beziehungen, etc. Das Ausagieren von Ängsten am eigenen Körper durch vielfache medizinische Eingriffe machte mir Sorgen. Für die Analysand*in war es jedoch eine Möglichkeit diese Ängste zu binden, davon nicht verschlungen zu werden – denn sie Stand vor einem Abgrund und ich mit ihr.
Ich hatte diese Analysand*in ausgehend von unserer gemeinsamen Arbeit nie pathologisiert oder ihr eine Perversion diagnostiziert. Dies änderte sich als ich mich „zufällig“ mit Theorien zur weiblichen Perversion beschäftigte. Ich verspürte plötzlich eine Erleichterung: Das, was mir Sorgen machte – die zahlreichen medizinischen Eingriffe – hatten plötzlich einen Namen: Perversion.[3] Meine Analysandin und ich waren damit nicht allein. Ab diesem Zeitpunkt jedoch merkte ich, dass ich mich in der psychoanalytischen Arbeit nicht mehr frei fühlte. Ich hatte mir die Perversionsbrille aufgesetzt. Warum hatte ich diese Diagnose, diese Einordnung so unkritisch und bereitwillig übernommen? Was hatte ich durch die Übernahme dieser Diagnose gewonnen? Nichts! Denn sie sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste, nichts, was durch die Arbeit mit der Analysandin nicht schon sichtbar vor mir lag. Im Gegenteil, ich erkannte viel mehr, dass ich vor der „Perversions“-Diagnose viel offener sein, viel intensiver in freischwebender Aufmerksamkeit zuhören und mit der Analysandin gemeinsam besser versuchen konnte zu verstehen, ohne ein schon vorgefertigtes Raster anzuwenden.
Ich beschloss also mich der „Perversions“-Diagnose, dieser „Perversion“ meiner psychoanalytischen Arbeit, wieder zu entledigen, was schließlich gar nicht so einfach war.
Warum ergehen wir uns so gerne in Pathologisierungen und diagnostizierenden Diskursen? Auch die Homosexualität galt lange Zeit – und oft ist sie es noch heute – als Perversion, der Psychoanalytiker*innen mit Pathologisierung und Abwertung begegneten. Ich denke, und dies ist die These meines Beitrages, dass Pathologisierungen in der klinischen und theoretischen Arbeit, mit der Gegenübertragung und der Abwehr der Analytiker*innen selbst zu tun haben. In der Pathologisierung als homosexuell, pervers, etc. wird etwas im Außen fixiert und damit zugleich gebannt. Die Pathologisierung macht ein schwer fassbares Phänomen, etwas, das den Analytiker*innen offenbar selbst Angst macht, erträglicher. Aber dass Psychoanalytiker*innen die Arbeit mit Analysand*innen „erträglicher“ finden kann kein Kriterium für die psychoanalytische Arbeit sein.
Literatur
[1] Vgl. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke V, 36, 1905.
[2] Vgl. ebd. 59.
[3] Estela V. Welldon: Mutter, Madonna, Hure. Verherrlichung und Erniedrigung der Mutter und der Frau. Bonz, Waiblingen, 1992. Sophinette Becker: Das weibliche Körperselbst und die Perversion. Warum Frauen sexualisierte Aggression anders externalisieren als Männer. In: Forum der Psychoanalyse 21, 2005, 242-254.